Kindesentziehung – Die Entziehung Minderjähriger ist nach § 235 StGB strafbar. Dass wissen inzwischen fast alle, nachdem sie vom spektakulären Fall der Block-House-Erbin Christina Block Kenntnis erlangten. Was jedoch die Wenigsten wissen ist, dass die Entziehung Minderjähriger in das Ausland nach § 235 Abs. 2 StGB gegen EU-Recht verstößt und reformiert werden muss.
Der EuGH hat in zwei Entscheidungen festgestellt, dass der § 235 Abs. 2 StGB in seiner aktuellen Fassung gegen geltendes Europarecht, insbesondere gegen die Freizügigkeitsregelung des Art. 21 Abs. 1 AEUV, verstößt.
Eine nationale Regelung, durch die bestimmte Angehörige eines Mitgliedstaates allein deswegen benachteiligt werden, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, stellt eine Beschränkung der Freiheiten dar, die Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger zuerkennt (EuGH C-353/06). Das ist bei § 235 Abs. 2 StGB der Fall. Die besondere Strafbarkeit des § 235 Abs. 2 StGB betrifft den Fall, dass ein Kind in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland zurückgehalten wird, daher kann sie sich de facto hauptsächlich auf Unionsbürger auswirken, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind und von ihrer Freizügigkeit und Aufenthaltsrecht Gebrauch gemacht haben und in Deutschland wohnen. Diese Bürger werden nämlich eher als deutsche Staatsangehörige ihr Kind in einen anderen Mitgliedstaat verbringen, namentlich anlässlich ihrer Rückkehr (EuGH C-454/19).
Nach den Ausführungen des EuGH in C-454/19 kann eine Einschränkung der Grundfreiheiten grundsätzlich gerechtfertigt sein. Eine Rechtfertigung ist anzunehmen, wenn sie auf objektiven Erwägungen des Allgemeininteresses beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit der fraglichen nationalen Regelung legitimen Weise verfolgten Ziel steht. Eine Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung des Zwecks geeignet ist und nicht über das Notwendige hinausgeht. Während der EuGH den Schutz des Kindes grundsätzlich als einen legitimen Zweck ansieht, widerspricht er der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs, sodass ein rechtswidriger Eingriff in die Grundfreiheiten vorliegt. Im Ergebnis stellt der EuGH fest, dass die Auslegung des Art. 21 Abs. 1 AEUV ergibt, dass er einer Anwendung des § 235 Abs. 2 StGB entgegensteht, sofern dieser eine Strafbarkeit normiert, ohne das die Anwendung von Gewalt, Drohung von Gewalt oder List vorliegt.
Reform des § 235 II StGB
Noch in der laufenden Legislaturperiode ist mit einer Novellierung des § 235 Abs. 2 StGB zu rechnen. Aus einem Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums aus dem November 2023 ist zu entnehmen, dass die Bundesregierung eine entsprechende Gesetzesänderung auf den Weg bringen wird.
Im Hinblick auf laufende Strafverfahren wegen Kindesentziehung in das Ausland nach § 235 II StGB sollte die Verteidigung diese Rechtslage in ihre Verteidigungsstrategie mit einfließen lassen.