Fachanwalt Strafrecht , Revision, Kammergericht Berlin, sexueller Missbrauch, kinderpornographische Schriften, Anklageschrift
Rechtsanwalt Oliver Marson

Kammergericht Berlin stellt Verfahren ein

Mit einer Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Berlin wurde meinem Mandanten ua. der Besitz kinderpornographischer Schriften vorgeworfen. Wie bereits hier berichtet, wurde das spätere Urteil des Amtsgerichts Tiergarten augehoben, soweit mein Mandant wegen schweren sexuellen Missbrauchs verurteilt worden war. Hinsichtlich der Verurteilung wegen  Besitzes kinderpornographischer Schriften stellte das Kammergericht das Verfahren ein. Die Anklage und der darauf beruhende Eröffnungsbeschluss waren unwirksam. In diesem Beitrag geht es um die gesetzlichen Anforderungen an den Inhalt einer Anklage.

Antrag auf Nichtzulassung der Verlesung der Anklageschrift

Nach meiner Rechtsauffassung entsprach die Anklageschrift  nicht den Anforderungen des § 200 StPO. Sie verletzte die Umgrenzungsfunktion. Das betraf jedenfalls die Anklagevorwürfe, mit denen einem Kind vermeintlich vorgespielte pornographische Filme nicht konkret und unverwechselbar  bezeichnet wurden.

Im Anklagesatz wurde zu den entsprechenden Anklagevorwürfen ausgeführt, mein Mandant habe „auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen eingewirkt“.

Im Wesentlichen Ermittlungsergebnis hieß es, der „Angeschuldigte spielte in mindestens 2 Fällen an nicht mehr bestimmbaren Tagen dem Zeugen X pornographische Filme vor. Hierbei handelte es sich um Kinder- oder Jugendpornographie, Tierpornographie und Erwachsenenpornographie.“ Eine konkrete und unverwechselbare Bezeichnung der vermeintlichen Filme, die diese von anderen Filmen bzw. Tatmitteln unterscheidet, fand sich in der Anklage jedoch nicht.

Folglich stellte ich am 1. Hauptverhandlungstag im Februar 2019 den Antrag, die Anklageschrift hinsichtlich dieser Tatvorwürfe nicht zur Verlesung zuzulassen. Es wurde beantragt das Verfahren mit Prozessurteil  gem. § 260 Abs. 3 StPO einzustellen. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen sollten der Staatskasse auferlegt werden. Das Amtsgericht sah das anders und lie der Verlesung der Anklage zu.

Prozessrüge der Verteidigung hatte vor dem Kammergericht Erfolg

Die Revisionsinstanz folgte der Prozessrüge der Verteidigung mit folgender Rechtsargumentation :

1.   Die auf die Sachrüge von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der  Verfahrensvoraussetzungen  ergibt, dass ein (Teil-) Prozesshindernis· besteht. Die Anklage der Staatsanwaltschaft ist, soweit sie dem Angeklagten mit Ziffern 3 bis 5 Taten des sexuellen Missbrauchs durch Vorspielen pornografischer Filme vorwirft, wegen inhaltlicher Mängel unwirksam, weil sie das dem Angeklagten vorgeworfene Tatgeschehen nicht hinreichend umgrenzt.

a) Die Anklage stellt, wie die Bestimmungen der §§ 151,.155. Abs. 1, 264 Abs. 1 StPO zeigen, die Grundlage und  unabdingbare Voraussetzung für das gerichtliche Verfahren insgesamt dar (vgl. BGHSt’46, 130, 137). Ihr Inhalt bestimmt zusammen mit dem Eröffnungsbeschluss den Gegenstand der Hauptverhandlung. Aus ihr muss der Angeklagte zum Zwecke seiner Verteidigung zweifelsfrei entnehmen können, innerhalb welcher tatsächlichen Grenzen sich die Hauptverhandlung und  die Urteilsfindung zu bewegen haben (vgl.  BGH a.a.O., ·134; Senat,. Beschluss vom  23. März 2005 – [4].1 Ss 356/03 [189/03]-,juris Rn. 5;.StV 2016: 548).

Insoweit hat die Anklage im Rahmen ihrer Umgrenzungsfunktion die dem Angeklagten zur Last  gelegte Tat sowie die Zeit und den Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass  die Identität des geschichtlichen Vorgangs.klargestellt und erkennbar wird, welche  bestimmte  Tat  gemeint ist. Sie   muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden lassen. Hierbei muss die konkrete Tat durch bestimmte Tatumstände so genau gekennzeichnet werden, das keine Unklarheit darüber möglich ist, welche Handlungen dem Angeklagten zur Last gelegt werden.

Fehlt es daran, so ist die Anklage unwirksam (vgl. BGH NStZ-RR 2014, 151; BGHSt 40, 44, 45; jeweils m.w.N.). Wann diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist nicht allgemeingültig bestimmbar, sondern hängt von den Umständen des EinzelfaIIs ab. Die Schilderung muss umso konkreter sein, je größer die Möglichkeit ist, dass der Angeklagte verwechselbar weitere Straftaten begangen hat (vgl. BGH, NStZ 2006, 649, 650 m.w.N.).

Diese Grundsätze gelten insbesondere auch bei sich aus einer Vielzahl von einzelnen Handlungen zusammensetzenden Serienstraftaten, bei denen jede Einzeltat unverwechselbar zu kennzeichnen ist (vgl. BGH a.a.O.; Senat a.a.O.; LR-Stuckenberg, StPO 27. Aufl. §.200 Rn.22, jeweils m.w.N.). Eine Einschränkung der Anforderungen an die Konkretisierung der Einzeltaten kommt nur in Betracht, wenn anderenfalls die Verfolgung und Aburteilung strafwürdiger Taten nicht möglich wäre. Diese Ausnahme ist auf Fälle beschränkt, in denen typischerweise bei einer Serie gleichartiger Taten etwa wegen des Zeitablaufs oder der Besonderheiten in der Beweislage einzelne Taten nicht mehr genau voneinander unterschieden werden können (vgl. BGH NStZ 1999, 42; BGHSt 40, 44, 46; 48, 221, 224). So ist bei einer Vielzahl  von sexuellen Übergriffen auf Kinder, die oft erst nach Jahren aufgedeckt werden, eine Individualisierung der einzelnen Missbrauchshandlun.gen nach Tatzeit und genauem Geschehensablau.f häufig nicht mehr möglich, weil der Erinnerungsfähigkeit des Kindes als des regelmäßig einzigen Tatzeugen Grenzen gesetzt sind. Bei solchen Serienstraftaten reicht daher aus,  dass in der Anklage das Tatopfer, die Art und Weise der Tatbegehung in ihren Grundzügen, ein bestimmter Tatzeitraum und die  Zahl der den Gegenstand des Vorwurfs bildenden Straftaten mitgeteilt wird (vgl. BGHSt 44, 153, 154 f. m.w.N.; Senat a.a.O.; LR-Stuckenberg, a.a.O.; Rn. 23).

b)   Den dargelegten Anforderungen an die Umgrenzungsfunktion wird die Anklageschrift vom 13. Juli 2018  hinsichtlich  der dortigen Vorwürfe zu Ziffern 3 bis 5 nicht gerecht, so dass das Verfahren insoweit nach §§ 349 Abs. 4, 354 Abs.1 StPO einzustellen war.

Mit   Ziffer 3 bis 5 der – unverändert  zugelassenen – Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Berlin von 13. Juli  2018 war dem Angeklagten hinsichtlich der zu II.3  – 5 abgeurteilten Taten lediglich. zur Last gelegt worden, in mindestens zwei Fällen  [Hervorhebung durch den Senat] an  nicht mehr bestimmbaren Tagen [laut Vorspann zwischen Sommer 2015 und Ostern 2017 und zwar in der Wohnung des Angeklagten] dem Zeugen X pornografische Filme vorgespielt  zu haben. Hierbei habe es sich um Kinder- oder Jugendpornografie, Tierpornografie und Erwachsenenpornografie gehandelt. ln der Hauptverhandlung  war dem Angeklagten sodann der rechtliche Hinweis erteilt worden, dass es in der Ankl.ageschrift bezüglich der Anklagevorwürfe 3 bis 5 heißen müsse: ,,in mindestens 3 Fällen“.

Der in der Anklage erhobene Vorwurf des sexuellen Missbrauchs durch Vorspielen von pornografischem Bildmaterial erschöpft sich in  der Beschreibung des Rahmengeschehens eines Missbrauchs, wobei sich selbst die genaue Anzahl der zur  Last  gelegten Missbrauchsfälle   der  Anklageschrift nicht  entnehehmen lässt. Diskrepanzen zwischen der Zahl der Tatvorwürfe im Abstraktum und Konkretum oder sonstige Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit der Anz.ahl der dem Angeklag.ten zur Last gelegten Taten mögen zwar im Einzelfall unschädlich sein, wenn gleichwohl feststeht, über welchen Sachverhalt das Gericht urteilen soll (vgl.  OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 250; LR-Stuckenberg, a.a.O., Rn.80). Dies ist jedoch angesichts der einheitlichen Beschreibung der Tatvorwürfe hier nicht der Fall, so dass bereits unklar bleibt, ob die Staatsanwaltschaft zwei oder drei Taten anklagen wollte. Die  Unklarheit setzt sich im Übrigen· auch im Urteil fort,  das (nicht in  den Feststellungen, sondern) bei der Wiedergabe der Aussage des Nebenklägers (s. 6 UA) dessen als glaubhaft erachtete Angaben dahin wiedergibt ,dass “ bei einem der insgesamt drei Vorfälle“ (des Zeigens von „Sexvideos“) sich das als Fall 2 und als Fall II.2. der Urteilsgründe abgeurteilte Geschehen ereignet habe. Auch der Beweiswürdigung des Urteils sind danach nur zwei selbständige Taten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes gemäß §176a Abs. 4 Nr. 4 .StGB zu entnehmen, während die  dritte gleichartige Tat in Tateinheit .zu dem unter   II.2. festgestellten sexuellen Missbrauch nach § 176 Abs. 4 Nr.. 1 StGB stünde. Auch dies erweist sich als Folge des Umstandes, dass der konkrete Anklagesatz insbesondere jegliche individualisiernden Merkmale, die zur Umgrenzung der Tatvorwürfe erforderlich gewesen wären, hinsichtlich der einzelnen Missbrauchstaten vermissen lässt. Die Anklageschrift geht diesbezüglich über eine allgemein  gehaltene und zusammenfassende Schilderung der dem Angeklagten  vorgeworfenen Verhaltensweisen, die sich jedenfalls mehrfach in einem sehr langen Tatzeitraum ereignet haben sollen, nicht  hinaus. Es  handelt sich insoweit um die unzulässige Erhebung  eines globalen  Vorwurfs, der   das  Tatgeschehen nur abstrakt und generalisierend bezeichnet.  Eine  nähere  Bezeichnung. durch individualisierende Merkmale, wie beispielsweise eine schlagwortartige Beschreibung der pornografischen Filminhalte, die der Angeklagte dem Nebenkläger, an verschiedenen Tagen zur Kenntnis gebracht haben soll, oder durch Mitteilung sonstiger Tatumstände der konkreten Taten, die es gestatten, diese von anderen (möglichen) Taten  des  Angeklagten  gegenüber dem Nebenkläger zu  unterscheiden, fehlen vollständig.“ (Kammergericht Berlin, Beschl. v. 29.11.2019, (4) 161 Ss 115/19 (203/191)

Neue Anklage mit neuer Anklageschrift möglich?

Wenn sich solche Mängel wie hier „reparieren“ lassen, ist die Erhebung einer neuen Anklage möglich. Dafür liegen manchmal die objektiven Voraussetzungen vor.

Die Überprüfung der Anglage durch den Strafverteidiger

Ob eine Anklageschrift den gesetzlichen Anforderungen des § 200 StPO entspricht ist eine der ureigensten Aufgaben des Rechtsanwalts. Denn dann kann mit Beginn der Hauptverhandlung wirksam gegen die Anklage vorgegangen werden. Bleibt der Erfolg in der Vorinstanz zunächst aus und der Antrag auf Nichtzulassung der Verlesung der Anklageschrift wird verworfen, kann dieser Rechtsfehler – wie hier – auch in der Revisionsintanz erfolgreich gerügt werden. In der Praxis kommt es recht häufig vor, dass Anklagen nicht den Anforderungen entsprechen. Dazu hier ein Beispiel des AG Danneberg, das die Verlesung der Anklage auf Antrag der Verteidigung nicht zuließ. Ein weiteres Beispiel betrifft eine Anklage der Staatsanwaltschaft Cottbus.