Fachanwalt Strafrecht , Revision, Kammergericht Berlin, sexueller Missbrauch, kinderpornographische Schriften, Anklageschrift
Rechtsanwalt Oliver Marson

Urteil des Amtsgerichts Tiergarten aufgehoben

Das Kammergericht Berlin hob Ende November 2019 auf meine Revision ein Urteil des Amtsgerichts Tiergarten auf. Der Beschluss des Kammergerichts schloss sich weitestgehend dem Revisionsvorbringen des Revisionsführers bzw. des Verteidigers an.

Urteil des Amtsgerichts Tiergarten

Mit Urteil vom 28.03.2019 wurde mein Mandant wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 4 Fällen und wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften in Tateinheit mit Besitzes jugendpornographischer Schriften verurteilt. Mit dem Urteil wurde eine Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten verhängt. Der Computer wurde gem. § 74 StGB eingezogen. Ich berichtete.

Revision zum Kammergericht Berlin

Mit der Revision wurde sowohl die Verletzung formalen und  materiellen Rechts gerügt.

Unwirksamkeit der Anklage und des Eröffnungsbeschlusses

Mit der Revision wurde zunächst gerügt, dass die Anklage teilweise nicht den Voraussetzungen des § 200 StPO entsprach und sie deshalb, ebenso wie der darauf beruhende Eröffnungsbeschluss des Amtsgerichts, unwirksam war. Das Kammergericht Berlin folgte dieser Argumentation, wie hier nachzulesen ist.

Rechtswidrige Ablehnung eines Antrags auf Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens

In der Hauptverhandlung ließ der spätere Revisionsführer über seinen Verteidiger einen Antrag auf Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens zur Frage der Glaubhaftigkeit der Aussagen des Nebenklägers stellen. Zum Beweisthema wurde vorgetragen:

„Das Sachverständigengutachten wird unter Berücksichtigung der Aussagefähigkeit (Zeugentüchtigkeit), der Aussagequalität und der Aussagezuverlässigkeit zu dem Ergebnis kommen, dass schon die Aussagefähigkeit zu den relevanten Anklagevorwürfen im Hinblick auf eine ausgeprägte ADHS-Erkrankung nicht gegeben ist. In jedem Falle wird das Gutachten zu dem Ergebnis kommen, dass die Unwahrhypothese nicht zu verwerfen ist und die kindlichen Zeugenaussagen zu den vermeintlichen Tathandlungen des Angeklagten unglaubhaft sind.“

Die unverzichtbare Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Sachverständigen wurde in dem Antrag auf konkrete Besonderheiten im vorliegenden Fall gestützt. Das betraf konkret die ADHS-Erkrankung des Nebenklägers, der Besuch der daraus resultierenden Sonderschule, die Therapie und die medikamentöse Behandlung im tatrelevanten Zeitraum sowie die daraus abzuleitende Beeinflussung des Aussageverhaltens. Den Antrag lehnte das Amtsgericht mit einer unprofessionellen Begründung ab, so dass sie hier keiner Erwähnung bedarf. Das Kammergericht hob das Urteil zwar schon wegen der Sachbeschwerde auf, so dass es über die Prozessrüge nicht entscheiden musste. Es wies aber darauf hin, dass auch diese Rüge Erfolg gehabt hätte und für das neue Verfahren ein aussagepsychologisches Gutachten herangezogen werden müsse. Zur Begründung verwies das Kammergericht Berlin auf die ADHS-Erkrankung des Nebenklägers. Sie stellt eine Besonderheit dar, die ein Gericht überfordert, ohne sachverständige Hilfe die Glaubwürdigkeit eines Zeugen zu bewerten.

Kammergericht Berlin hebt Urteil wegen Sachmängeln auf

Aussagequalität und Aussagekonstanz

Stützt das Gericht die Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern auf die Aussagen des vermeintlichen Opfers, müssen die Urteilsgründe eine zusammenhängende Darstellung der Aussagen mit den zugehörigen Details enthalten, die eine Überprüfung der Aussagequalität und -konstanz revisionsrechtlich möglich machen. Dabei muss im Urteil eine Darstellung und Auseinandersetzung mit den im Einzelnen festgestellten, auch das Kerngeschehen betreffenden Konstanzen und/oder Abweichungen in den jeweiligen Aussagen der Belastungszeugen erfolgen.

Entstehungsgeschichte von Aussagen bei kindlichen Zeugen

Zudem muss sich das Gericht in den Urteilsgründen mit der Entstehungsgeschichte der Aussagen befassen und insbesondere mitteilen, wie es zur Aufdeckung der vermeintlichen Taten und zur Anzeigeerstattung kam. Der Entstehungsgeschichte einer Aussage kommt gerade bei der Bewertung kindlicher Zeugen in Missbrauchsfällen besondere Bedeutung zu.

Die mit der Revision gerügten, konkreten Lücken des Urteils

1. Die Urteilsgründe enthalten keine hinreichend detaillierte Darstellung der den Angeklagten belastenden Aussagen des Nebenklägers. Soweit das Amtsgericht sich (ausschließlich) auf Ausführungen zur Glaubhaftigkeit auf gerichtliche Aussagen des Nebenklägers beschränkt und ausführt, es bestünde „keine Besorgnis, der Nebenkläger habe Aussagen seiner Eltern oder Dritter übernommen“, der Nebenkläger habe „mit seinen Eltern, bei der Polizei und vor Gericht über die Vorfälle geredet“, die Aussageentstehung würde „für die Glaubhaftigkeit der Angaben des Nebenklägers“ sprechen, es gebe „keinen Grund zu der Annahme, er sei von Dritten (insbesondere von seinen Eltern) beeinflusst worden und/oder habe tatsächlich Erlebtes und Fantasie durchmischt“, genügt das angesichts der verkürzten und detailarmen Tatfeststellungen nicht.

2. Es hätte einer eingehenden Darlegung der in den verschiedenen Stadien des Strafverfahrens getätigten und sonst schriftlich festgestellten Aussagen des Nebenklägers bedurft. Dies gilt umso mehr, als die Mutter, von der im Urteil die Rede ist und der gegenüber sich der Nebenkläger zunächst ohne Beisein des Zeugen X offenbart haben soll, zeugenschaftlich nicht vernommen wurde. Die Entstehungsgeschichte der Aussage teilt das Gericht nicht vollständig mit.

3. Das Gericht führt lediglich pauschal und somit lückenhaft aus, es habe im „Randbereich Abweichungen zwischen der Aussage des Nebenklägers kurz nach der Tat und der gerichtlichen Aussage des Nebenklägers“ gegeben. Um welche Abweichungen es sich gehandelt haben soll lässt das Urteil offen.

4. Lückenhaft ist das Urteil auch deshalb, weil es sich mit den Aussagen des Nebenklägers im Stadium des Ermittlungsverfahrens nicht auseinandersetzt. Er wurde polizeilich vernommen .

Unbeachtet gebliebene Prüfungsmethodik bei Glaubwürdigkeitsprüfung

Der Glaubhaftigkeitsprüfung von Zeugenaussagen liegt bekanntlich eine festgeschriebene Prüfungsmethodik zugrunde. Im Kern beruht die Prüfung auf drei Säulen, nämlich der Aussagefähigkeit, der Aussagequalität und der Aussagezuverlässigkeit. Die Befunde zu den vorgenannten drei Säulen der Glaubhaftigkeitsprüfung werden in einen hypothesengeleiteten Prozess integriert. Dabei wird nach der Grundsatzentscheidung des BGH vom 30.07.1999 zu den wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten von der Unwahrhypothese ausgegangen. Es wird also zunächst davon ausgegangen, dass die Aussage unwahr, also nicht erlebnisfundiert, ist. Der Unwahrhypothese steht die Alternativhypothese gegenüber, wonach also Aussagen erlebnisfundiert sind. Sie gilt dann, wenn die erhobenen Befunde nicht mehr mit der Unwahrhypothese vereinbar sind.

Auch in dieser Hinsicht ist das Urteil lückenhaft. Denn es ist nicht ersichtlich, dass überhaupt eine Glaubhaftigkeitsprüfung nach dieser von der Rechtsprechung vorgegebenen Methodik erfolgt ist. Auch dadurch entzieht sich das Urteil revisionsrechtlicher Überprüfung. Es bleibt völlig offen, ob die 0-Hypothese angewandt und wie sie überwunden worden sein soll.

Das Kammergericht Berlin folgte der Rechtsargumentation des Strafverteidigers

Die vorgenannten Rügen aus der Sachbeschwerde des Revisionsführers hat das Kammergericht vollständig übernommen und das Urteil weitestgend im Schuldspruch und vollständig im Rechtfolgeausspruch (=Strafmaß) aufgehoben.

Kammergericht Berlin erkennt Lücken bei den Strafzumessungskriterien

Aber das Kammergericht vertrat auch die Auffassung, dass das Gericht nicht geprüft hatte, ob die Einziehung des Computers, auf dem sich kinderpornograhische Videos und Fotos befanden, gerechtfertigt war. Es hätte geprüft werden müssen, ob die Einziehung durch einfache Löschung der inkriminierten Bilder hätte vermieden werden können. Wenn nicht, so hätte die Einziehung strafmildernd berücksichtigt und dazu der Wert des Computers geschätzt werden müssen.