Die flegelhafte Verhandlungsführung der Berliner 29. großen Strafkammer
Die 29. große Strafkammer des Landgerichts Berlin tat sich in einem Kindstötungsprozess im Jahre 2013 in besonderer Weise hervor. Über den Fall berichtete ich bereits hier, hier und auch hier. Aus den Ermittlungsakten ergab sich, dass das Berliner Landeskriminalamt bei der Beschuldigtenvernehmung weit über das Ziel und vor allem über das gesetzlich Zulässige hinausgeschossen war. Es vernahm die Beschuldigte im Dezember 2012 im Krankenhaus, nachdem sie bereits über 38 Stunden ohne Schlaf war. Sie hatte zuvor ohne fremde Hilfe ein Kind zur Welt gebracht und dabei mehrere Liter Blut verloren. Nach der Geburt wurde sie ohnmächtig aufgefunden und in ein Krankenhaus verbracht. Als die Beamten nachts zur Vernehmung in`s Krankenhaus einrückten, stand die Mandantin unter schlaffördernden Medikamenten. Mit der Bluttransfusion war noch nicht begonnen worden. Das alles hielt die Kriminalbeamten nicht von einem mehrstündigen Verhör ab. Immer wieder konfrontierten sie die Mandantin mit dem Vorwurf, ihr Kind nach der Geburt getötet zu haben. Sie stritt das zunächst vehement ab. Irgendwann hielt sie dem auf sie ausgeübten Druck nicht mehr Stand und legte ein „Geständnis“ ab.
Die Strafkammer beim Verlesen des Verwertungswiderspruchs
Unmittelbar nach Verlesung der Anklage brachte ich daher am 1. Hauptverhandlungstag einen auf Verletzung des $ 136 a StPO gestützten Verwertungswiderspruch an. Er ist hier nachzulesen. Schon beim Verlesen des Verwertungswiderspruchs schien mir der Vorsitzende genervt. Zugegeben, es waren 16 Seiten zu verlesen und das verlangte der Strafkammer einige Minuten Aufmerksamkeit ab. Diese Minuten nutzte der Vorsitzende zu gymnastischen Übungen: die rechte Hand ließ er sichtbar und hörbar fast im gleichbleibenden Takt auf eine Akte oder den Richtertisch „fallen“. Anwesende Medienvertreter und weitere Prozessbeobachter berichteten mir später übereinstimmend, die Mimik sei dem Vorsitzenden förmlich entglitten. Er habe schlicht „angeekelt“ gewirkt und den Eindruck vermittelt, dass ihm dieser Verhandlungsauftakt nicht gefalle.
Die Strafkammer nach Verlesen des Verwertungswiderspruchs
Nach Verlesung brachte ich das Schriftstück zum Richtertisch und übergab es dem Vorsitzenden. Er warf keinen Blick darauf und „bemerkte“ unmittelbar darauf: „Ich bin gerade dabei, ihren Antrag zurückzuweisen“. Der dabei gewählte Ton erschien mir aggressiv, schneidig, unnötig lautstark. Etwas bekümmert schienen mir die beisitzenden Berufsrichter ihren Vorsitzenden anzuschauen, hielten sich aber zurück. Dann erklärte der Vorsitzende im „Brustton der Überzeugung“, dass der Verwertungswiderspruch derzeit unzulässig sei. Er könne erst nach Vernehmung der entprechenden Zeugen angebracht werden. Ich widersprach, wie vorlaut von mir: So wurde ich dann belehrt, der Antrag enthalte keine konkrete Benennung derjenigen Beweismittel, die nicht zu erheben bzw. zu verwerten seien. Wieder widersprach ich und verwies auf die konkrete Seite und den entsprechenden Absatz. Dann ließ der Vorsitzende den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft zu Worte kommen. Der wirkte fachlich zu dieser Prozessmaterie völlig überfordert. Nachdem er zunächst gar keine Worte fand, stammelte er irgendetwas, wonach das alles „so nicht ginge“. Sinngemäß wurde bei mir hinterfragt, ob ich den Verwertungswiderspruch aufrechterhalte. Es sei ohnehin mit einer Zurückweisung zu rechnen. Ich nahm ihn nicht zurück. Auch der letzte scheinbare Versuch des Vorsitzenden, den Verteidiger als Deppen hinzustellen, schlug fehl. Entgegen seiner laut herausposaunten Behauptung, befand sich selbstverständlich meine Unterschrift unter dem Verwertungswiderspruch.
Die Strafkammer an den Hauptverhandlungstagen danach
Der Verwertungswiderspruch wurde dann doch nicht sogleich zurückgewiesen, man behielt sich die Entscheidung bis zur Schlusssitzung vor. Dort wischte die Strafkammer ihn dann vom Tisch. Aber der Verlauf des 1. Hauptverhandlungstages schien den Vorsitzenden gegen den Strafverteidiger, also mich, aufgebracht zu haben. Beweisanträge wurden mit Kopfschütteln und „Händetrommeln“ aufgenommen. Meine Befragungen wurden sichtlich gestört, in dem meine Fragen als „schon beantwortet“ behandelt wurden. Oder man nahm mir die Befragung aus der Hand, indem der Richter selbst weiterfragte. Auf meine sachliche Bemerkung, ob mir das Fragerecht entzogen werden solle, blaffte der Richter zurück. An die Worte erinnere ich mich nicht mehr. Als ich ihn fragte, warum er sich so aufrege, schrie er in den Saal:“Ich verbitte mir Ihre Bemerkung, ich würde mich aufregen! Nehmen Sie das sofort zurück! Wie kommen Sie überhaupt darauf?“ Ich stand auf. Mit ruhigem Ton erklärte ich ihm, dass man das an seiner Lautstärke, Mimik und Gestik erkennen könne. Fast ängstlich, jedenfalls sehr besorgt schauten die Beisitzer zum Vorsitzenden. Irgendwie fuhr er sich für den Moment herunter. Aber es änderte sich nicht wirklich was. Auch mein Plädoyer nahm er mit unentwegtem Kopfschütteln und Trommeln entgegen.
Keine Abrechnung mit Strafkammer als Flegelkammer
Wie bereits berichtet, war die auf Verletzung des § 136 a StPO gestützte Revision erfolgreich. Der BGH hob das Urteil mit an das Landgericht gerichteten, klaren Worten auf. Das bereitete mir nicht nur fachlich, sondern auch wegen der fast unerträglichen Verhandlungsatmosphäre Genugtuung. Mehrere Kollegen berichteten mir, dass sie schon Praxiserfahrung mit dem Vorsitzenden hätten. Er sei schon des öfteren bei Verhandlungen durch Überheblichkeit, Anmaßung und Voreingenommenheit gegenüber Strafverteidigern in Erscheinung getreten und habe deshalb einen „Ruf“. Egal. Ich rechne hier aber nicht mit einem Vorsitzenden ab. Ich reiche ihm vielmehr die Hand, wenn er den erforderlichen Respekt gegenüber Strafverteidigern künftig zur Handlungsprämisse bei der Prozessführung macht.
11 Kommentare
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Dürfen Ärzte eigentlich Polizeibeamten verbieten einen Patienten zu vernehmen?
Gut in den „Krimis“ werden die Polizisten von den Ärzten immer mit Nachdruck zur Tür
komplimentiert. Aber wie sieht es in der Realität aus?
Haben die im Krankenhaus nicht die Pflicht einen Patienten zu schützen?
(Stichwort: Schutzbefohlene)
Ist das nicht so, dass ein Verwertungsverbot gem. § 136a StP0 auch ohne den Widerspruch eingreift? Daher verstehe ich schon den Vorsitzenden. Zudem erheben alle Verteidiger erst nach der Vernehmung den Widerspruch wegen. § 136 ohne a StPO
LG
Der Widerspruch muss erhoben werden. Die Diskussion darüber erübrigt sich in Fällen wie diesem auch dadurch, dass sich erst aus der Urteilsbegründung die Umstände des Verwertungswiderspruchs ergeben haben. Sie waren zuvor nicht aktenkundig. Viele Kollegen erheben den Widerspruch schon vor der beabsichtigten Beweiserhebung. Das ist einerseits fair gegenüber dem Gericht, dass dann Zeugen gleich abladen kann. Der Hauptgrund ist aber ein anderer: die Richter und Schöffen sollen nicht einmal mittelbar durch eine stattgefundene, aber unverwertbare Beweisaufnahme beeinflusst werden, die sie zwar dann formal nicht beachten dürfen, aber die negativ für den Angeklagten das Zünglein an der Waage sein kann.
Ich bin auch nicht ganz einverstanden. Eine auf 136 a StPO gestützte Revision setzt nicht einen Widerspruch gegen die Einführung der Vernehmung voraus(KK-Diemer, 136a Rn. 43 mwN). Es gilt auch der Grundsatz des Freibeweises(KK, aaO).
Das setzt es zwar nicht voraus, ist aber unschädlich. Im Übrigen sitzen in einer Schwurgerichtskammer auch Schöffen. Ein Verteidiger wird also ein Interesse daran haben, dass deren Meinungsbildung nicht durch Beweismittel mitbestimmt werden, die eigentlich nicht verwertet werden dürfen. Das ist der pragmatische Ansatz eines Strafverteidigers, der in keinem Kommentar unter irgend einer Randnummer zu finden ist, dennoch aber berechtigt ist.
Eigentlich erhält der Verteidiger das Wort erst nach der Vernehmung des Zeugen, auch für die Vernehmung des Zeugen, aber er muss erforschen und es muss mündlich mitgeteilt werden, dass alles so stimmt, wie in den Akten steht, so dass sich die Frage nicht so stellt. Sie können nicht einfach so eine Erklärung verlesen, sondern der Vorsitzende muss sie nach der Vernehmung fragen, ob Sie was zu erklären haben. Davor kann er die Verlesung untersagen. Das liest sich wunderbar aus dem § 257 StPO.
Es mag ja stimmen, dass die Zeugen durch eine Aussage beeinflusst werden, aber wenn sie sonst nichts zu verwerten haben, wie sollen sie dann die Angeklagte verurteilen? In diesem Fall kann man aus dem BGH-Fall herauslesen, dass es um eine Überargumentation handelte, aber dass die BGH-Richter schon die Schuldfähigkeit geprüft haben, dann aber wohl in der Schuldfrage, so dass die Frage der Tat mit anderen Mitteln beweisbar war. Es wurde auch kommentiert, ob einer schriftlichen Erklärung ein erheblicher Beweiswert zukommt. Das spricht alles für eine Verurteilung in dem neuen Verfahren, wobei wegen Länge des Verfahrens und des Fehlers in dem Prozess mit einer etwas milderen Strafe ausgegangen ist.
Sie bringen das mit der Prozesserklärung durcheinander, die logischerweise erst nach der Erhebung eines Beweises zum Beweis möglich ist. Ich habe da auch nicht irgendwas verlesen, sondern einen zulässigen Antrag gestellt. Anträge jeder Art können zu jedem Zeitpunkt gestellt werden. Genau das ist hier geschehen und wie an der BGH.Entscheidung ersichtlich wird, habe ich damit im Ergebnis durchgesetzt.
Wenn Richter nichts zu verwerten haben, können sie nicht verurteilen. Es ist nicht Aufgabe eines Gerichts, zwingend zu verurteilen. Wäre es anders, dann wäre jeder Prozess eine Farce.
Alle Ihre anderen Fragen möchte ich nicht weiter erörtern. Das ist ein Fachartikel, der vornehmlich für praktizierende Juristen gedacht ist.
Ein Befangenheitsnatrag ist vor der Vernehmung des Angeklagten zulässig. Sonstige Anträge sind nicht zulässig und können vom Gericht zurückgestellt werden. Ein Widerspruch gegen die Verwertung wie ein Beweisantrag ist eine Prozesserklärung.
Der Antrag kann nach Verlesung des Schuldspruches nicht mehr gestellt werden.
Aber Anträge können immer zurückgestellt werden, außer in dem Fall, dass ein Befangenheitsantrag vorliegt.
Ich wünsche viel Erfolg!
Sie glauben eigentlich, dass Sie ihre Bringschuld was die Verteidigung angeht, dadurch tilgen würden, indem sie den Schwurgericht I angreifen. Ihre Ausführungen finde ich überflüssig und prosaisch. Wie ein Buch. Das ganze.