Verteidiger erzwingen erneut Prozessunterbrechung wegen Coronaverdacht
Der Missbrauchsprozess gegen einen Mandenten am Landgericht Berlin kommt nur schleppend voran. Zunächst platzte der Prozess wegen Befangenheit einer Richterin und musste nach mehreren Tagen Verhandlungsdauer neu aufgerollt werden. Dann kam der Prozess ins stocken, als letzten Montag bekannt wurde, dass ein Kind eines Schöffen möglicherweise mit einem anderen, coronainfizierten Kind, im Kindergarten Kontakt hatte. Die Hauptverhandlung musste sodann auf Antrag der Verteidigung unterbrochen werden. Am heutigen Fortsetzungstermin stellte sich heraus, dass eines der Kinder positiv getestet wurde und daraufhin für alle Kinder der Kindergartengruppe vom zuständigen Gesundheitsamt die häusliche Quarantäne angeordnet wurde.
Missbrauchsprozess sollte nach Auffassung des Gerichts dennoch fortgesetzt werden
Der Vorsitzende Richter teilte heute trotz dieser Sachlage mit, keine Bedenken zu sehen, den Missbrauchsprozess mit und in Anwesenheit des Schöffen fortführen zu können. Er berief sich dabei auf eine wenig sachkompetente Auskunft des Gesundheitsamtes Berlin-Lichtenberg, wonach hiunsichtlich des Schöffen und Vater des in Quarantäne befindlichen Kindes keine Bedenken bestünden, weiter als Schöffe tätig zu sein.
Unterbrechungsantrag der Verteidiger im Missbrauchsprozess
Das sahen wir als Strafverteidiger anders und beantragten wie bereits folgerichtig und erfolgreich vor zwei Tagen wieder die Unterbrechung der Hauptverhandlung. Zur Begründung trugen wir vor:
„Die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind des anwesenden Schöffen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit dem Coronavirus infiziert ist, steht fest. Diese Annahme beruht auf dem positiven Testergebnis eines anderen Kindes der gleichen Kindergartengruppe. Über diese Tatsache informierte der Vorsitzende … fernmündlich Rechtsanwalt Marson in den späten Nachmittagsstunden des 17. Juni 2020. Diese Annahme wird außerdem dadurch gestützt, dass das Gesundheitsamt Lichtenberg alle Kinder dieser Kindergartengruppe in die höchste Risikogruppe (Kategorie I) eingestuft und Quarantäne angeordnet hat.
Der Schöffe hat täglich Kontakt zu seinem Kind. Er bringt sein Kind zum Kindergarten und holt es wieder ab. Zudem bewohnen beide eine Wohnung, nehmen gemeinsam Mahlzeiten ein und haben zumindest bis zum Bekanntwerden des Cornaverdachtfalles in der Kita, einen engen körperlichen Kontakt gepflegt. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Schöffe als Glied der Infektionskette Kind-Kind-Vater somit ebenfalls infiziert ist.
Soweit die Mitarbeiterin des Gesundheitsamts Lichtenberg, Frau xyz, bei einem gestrigen Telefonat gegenüber dem Vorsitzenden sinngemäß geäußert haben soll, für den Schöffen bestünde keine Infektionsgefahr, er könne weiter als Schöffe tätig bleiben, bedarf es nur einfachen Menschenverstandes, um diese Äußerung als unzutreffend, ja, ganz offensichtlich falsch und sachunkundig einstufen zu können und zu müssen. Der gesunde Menschenverstand sträubt sich im Übrigen schon gegen die denkgesetzlich unlogische Annahme, dass eine solche Äußerung aus dem Hause einer Gesundheitsbehörde überhaupt getätigt worden sein könnte.
Um hier allen Missverständnissen und eventuell aufkommenden Gegenargumenten, die die mögliche und wahrscheinliche Infektion des Schöffen verharmlosen oder verniedlichen könnten, wird folgendes erklärt:
Bisher haben die praktizierenden Mediziner kein einheitliches Bild des Krankheitsverlaufs, der Weitergabe des Virus und der Symptome bei Befall. Es dürfte als gerichtbekannt gelten, dass Personen auch ohne Symptome infiziert sein können und das Virus weitertragen. Hinzu kommt, dass ca. 40 % aller Fälle der Coronainfektion asymptomatisch verlaufen (National Library of Medicine, Artikel).
Der Coronavirus SARS-CoV-2 wird nach derzeitigem Stand der Wissenschaft durch Tröpfchen und Aerosole (in der Luft schwebende Tröpfchenkerne kleiner als fünf Mikrometer) übertragen.
„Eine Ansteckung kann erfolgen, wenn solche virushaltigen Flüssigkeitspartikel an die Schleimhäute der Nase, des Mundes und ggf. der Augen einer anderen Person gelangen. Auch eine Übertragung durch Schmierinfektion über die Hände, die mit der Mund- oder Nasenschleimhaut sowie mit der Augenbindehaut in Kontakt gebracht werden, ist prinzipiell nicht ausgeschlossen.“ (aktuelle Information der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung .
Eine Übertragung des Virus ist durch den einfachen alltäglichen Körperkontakt des Schöffen mit seinem im Vorschulalter befindlichen Kind als sehr wahrscheinlich anzusehen. Unter diesen Umständen ist die Unterbrechung der Hauptverhandlung schon aus gesundheitlichen Fürsorgeerwägungen des Gerichts gegenüber dem Angeklagten zwingend.
Die telefonische Anmerkung des Vorsitzenden Herrn … vom gestrigen Tag gegenüber Rechtsanwalt Marson, wonach er die Fortsetzung der Hauptverhandlung für möglich hält, ist nicht nachvollziehbar und entbehrt jeder Grundlage. Sie richtet sich auch gegen Zeugen, gegen anwesende Nebenkläger, die Gutachterin, die Gerichtsprotokollanten, die Nebenklägervertreter, die Verteidiger, die Öffentlichkeit und nicht zuletzt gegen die anwesenden Justizangestellten. Es steht keinem Gericht zu, eine Hauptverhandlung durchzuführen, wenn es dadurch Dritte in ihrer Gesundheit schädigen oder sogar den Tod herbeiführen könnte. So aber läge der Fall hier.“
Missbrauchsprozess wieder unterbrochen
Auch die meisten Nebenklägervertreter schlossen sich dem Unterbrechungsantrag an. Der Prozess wurde antragsgemäß unterbrochen. Ob er in einer Woche fortgeführt werden kann, bleibt abzuwarten.