Das Justizdesaster im Umgang mit digitalen Beweismitteln

Akteneinsichtsrecht, Rechtsanwalt, Strafverteidiger, Fachanwalt,
Rechtsanwalt Marson

Die Strafverteidiger werden sich einem Problem stellen müssen, dass mit dem Akteneinsichtsrecht und insbesondere mit dem neuen Verfahren über die Akteneinsicht (§ 32f StPO) unmittelbar verknüpft ist. Es ist die Folgeerscheinung des Einsatzes moderner Technik. Der Einsatz elektronisch geführter Akten wird alles Herkömmliche über den Haufen werfen. Aber zunächst gehe ich nachfolgend auf den „Ist-Zustand“ ein.

Der Einsatz von Abhör- und Aufzeichnungstechnik  bei der Polizei

Bei den Ermittlungsorganen kommt seit langem zur Aufdeckung von Straftaten hochmoderne Technik zur Anwendung. So werden im Rahmen der Telekommunikationsüberwachung oft über Monate Telefongespräche, elektronisch übersendete Texte, Bilder und Videos abgefangen und gespeichert. Diese elektronischen Beweismittel umfassen in Umfangsverfahren nicht selten hunderttausende einzelne elektronische Beweismittel, die dann die Gigabyte-Grenze an Speicherumfang überschreiten. Das ist insoweit nicht neu und die Landeskriminalämter scheinen den Einsatz dieser Aufzeichnungstechnik handwerklich im Griff zu habe.

Verfügbare, aber nicht angewendete Auswertungssoftware bei der Polizei

Zur Auswertung dieser elektronischen Beweismittel wird spezifische Software benötigt, um die Daten überhaupt lesbar zu machen und anschließend einer computergestützen Analyse zuzuführen. Hier kann ich aus eigener Erfahrung aus einem Umfangsverfahren in Berlin („KaDeWe-Prozess“) berichten, dass genau genommen gar nichts ging: die im Rahmen der TKÜ massenhaft gewonnenen elektronischen Beweismittel sind nach Bekunden der als Zeugen vernommenen LKA-Beamten nur bruchstückhaft ausgewertet worden. Und zwar „nach Relevanz“ zur Aufklärung des Straftatverdachts. Die LKA-Beamten waren auf Befragen der Verteidigung nicht in der Lage zu beantworten, wie das „Relevanzauswahlverfahren“ ausgesehen habe. Auf die Anschlussfrage, ob eine analytische Auswertung der Beweismittel stattgefunden habe, wurde das verneint. Als Entschuldigung wurde die Antwort mit dem Zusatz versehen, dass es an Schulung im Umgang mit der Software ermangele.

Nicht verfügbare und daher nicht anwendbare Analysesoftware bei Staatsanwaltschaft und Landgericht

Die Staatsanwaltschaft räumte ein, über die erforderliche Software nicht zu verfügen. Hintergrund sei, dass Lizenznehmer für die relevante Software der Polizeipräsident in Berlin sei und somit eine Nutzung durch die Staatsanwaltschaft ausgeschlossen war. Nicht anderes gilt für das Landgericht. Die Schwurgerichtskammer räumte in einem Beschluss ein, nicht über die entsprechende Software zu verfügen, so dass der Kammer eine selbstständige Beweismittelsichtung nicht möglich war.

Ein desaströses Zwischenergebnis und die drei Kröten

Dieser Zustand gefährdet in höchstem Maße das Funktionieren der Judikative. Denn die Polizei erlangt ein ihr in unserer Rechtsordnung nicht zustehendes Herrschaftswissen. Es wird – gewollt oder ungewollt – zu einer unkontrollierbaren Manipulationsmasse. Denn es ist monopolisiertes Wissen, weil Ermittlungsergebnisse von der Staatsanwaltschaft nicht kontrollierbar werden. Und das Nichtwissen der Staatsanwaltschaft über den Inhalt aller Beweismittel führt unweigerlich zu fehlerhaften Anklagen. Die Gerichte wiederum urteilen über Sachverhalte, die sie nicht an Hand der erhobenen Beweismittel überprüfen (können). Hier werden drei Kröten gereicht und geschluckt: die erste reicht das LKA der Staatsanwaltschaft, die sie freiwillig schluckt. Der Staatsanwalt reicht mit Anklage eine Kröte dem Richter, der sie ebenfalls ohne Argwohn schluckt. Und die dritte Kröte ist die schlimmste: die wird nicht gereicht, sondern gesprochen: das schuldsprechende Urteil. Wir laufen also Gefahr, dass die Polizei zum Staat im Staate wird.

Strafverteidiger brauchen erweitertes Akteneinsichtsrecht

Dieser Entwicklung haben wir als Beistände in Strafverfahren im Interesse unserer Mandanten in Zukunft mit aller Härte entgegenzuwirken. Dazu gehört nach meiner Auffassung auch die Einflussnahme auf ein zu veränderndes Akteneinsichtsrecht für Anwälte. Denn dem Beginn des Zeitalters der elektronischen Aktenführung (§32 StPO) werden wir in den Strafverfahren überwiegend sämtliche Beweismittel elektronisch im Rahmen der Akteneinsicht (§ 147 StPO) erhalten.