Der Kuss auf den Mund in den Augen des Landgerichts
Auch wegen eines kurzen, flüchtigen Kusses auf die Lippen kann man eine Freiheitsstrafe kassieren. Meint jedenfalls das Berliner Landgericht. Und zwar wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes. Vor wenigen Wochen verurteilte das Landgericht Berlin einen Mandanten wegen Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht in 41 Fällen, des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes und des Besitzes kinderpornographischer Schriften. Er wurde zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt. Der Mandant ist einschlägig vorbestraft.
Der Kuss und der festgestellte Sachverhalt im Urteil
Am 14. Mai 2014 habe der Mandant die zweijährige Judith und den vierjährigen Olaf (Namen geändert) im Auftrage ihrer Mutter betreut. Auf einem Spielplatz habe er dann mit beiden Kindern gespielt. Er habe dann den Olaf „… spontan für einen kurzen Moment auf den Mund und die Stirn (geküsst)“. Dies sei in einem Augenblick geschehen, als der Olaf gerade eine Hängebrücke überquerte und den Mandanten zu sich gerufen habe. Auch habe der Mandant mit dem Olaf ein Spiel namens „Fliegerspiel“ gespielt. Dabei habe er ihn an Brust und im Bereich des unteren Oberkörpers gehalten und durch die Luft geschwenkt. Auch habe er ihm dabei geholfen, über eine Leiter auf einen Spielturm zu klettern, wobei er diesen dabei unterstützend am Gesäß berührt habe.
Der Kuss als Kindesmissbrauch nach Auffassung des Landgerichts
Die Berührung am Gesäß wurde – entgegen der Anklage – durch die Kammer zutreffend nicht als sexualbezogen gewürdigt. Auch bei dem „Fliegerspiel“ ging die Kammer – ebenfalls entgegen der Anklage – zutreffend von einer nicht sexualbezogenen Handlungsweise aus. Die sexuelle Missbrauchshandlung begründet das Urteil allein mit dem Kuss auf den Mund des Olaf. Zur Begründung heißt es dazu im Urteil:
„Durch den Kuss auf den Mund des Kindes Olaf … hat der Angeklagte sich ferner des schweren sexuellen Missbrauch eines Kindes gemäß § § 176,176 a Abs. 1 und 6 StGB schuldig gemacht. Soweit der Angeklagte eine sexuelle Handlung gegenüber dem Kind … in Abrede stellt, ist er bereits durch den Kuss als solchen, den er selbst eingeräumt hat und von dem die Kammer sich auch – wie oben unter III bereits ausgeführt – durch Inaugenscheinnahme des entsprechenden Observierungsvideos und die Aussage des Observierungsbeamten, des Zeugen PHK …, überzeugt hat, überführt.“
Der Kuss und die vermeintliche Sexualbezogenheit
Die richterliche Überzeugung von der Sexualbezogenheit des Kusses wird im Wesentlichen wie folgt begründet:
„Angesichts der hier vorliegenden Gesamtumstände, nämlich der erstmaligen Betreuung des dem Angeklagten ansonsten fremden Kindes an diesem Tag und der Vorbelastung des Angeklagten, ist dieser Kuss, zumal auf den Mund, für den ansonsten keinerlei Veranlassung bestand, objektiv gesehen nur als sexualbezogen zu bewerten.“
Das Urteil geht von einer erheblichen und nicht lediglich belanglosen Handlungsweise aus. Gleichzeitig aber kommt das Urteil zu der dazu im Widerspruch stehenden Feststellung, dass
„eine vergleichsweise geringe Intensität und Dauer des Kusses vorgelegen habe.“
Der Kuss in der Revision zum BGH
Das Urteil ist nun (auch) insoweit mit der Revision zum BGH angegriffen worden. Nach hiesiger Auffassung ist ein kurzer flüchtiger Kuss nicht unter § 176 StGB zu subsumieren.
Denn das Landgericht Berlin hat schon vom Ansatz her verkannt, dass ein bloßes Berühren der Lippen ohne Eindringen mit der Zunge in den Mund keinen Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung darstellt. Der gesamte Vorfall (Kuss) hat nur einen kurzen Augenblick angedauert und sei nach den Urteilsfeststellungen von nur geringer Intensität gewesen. Diese Feststellungen des Landgerichts zur Art des Handelns und zur geringen Intensität, mit der der Mandant vorging, lassen eine Einordnung nur unterhalb der Schwelle der Unrechtsbewertung des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu. Ansonsten enthält das Urteil keine Feststellungen, dass etwa eine Nötigung vorgelegen haben könnte. Denn dafür, dass der Mandant gegen den Willen des von ihm betreuten Kindes gehandelt haben könnte, gibt es keine Anzeichen.
Ist die zu würdigende Handlung wie hier (kurzer, flüchtiger Kuss auf den Mund) von besonders geringer Intensität, Dauer und eher von flüchtiger Natur, sind nach meiner Überzeugung die Anforderungen an die Nachweisführung, dass es sich dabei um eine erhebliche sexuelle Handlung handelt, die also die Erheblichkeitsschwelle im Sinne der §§ 176,184 c Nr. 1 StGB überschreitet, besonders hoch anzusetzen. Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht.
Über den Ausgang des Verfahrens werde ich weiter berichten.
3 Kommentare
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Hier zeigt sich wieder einmal, wie Gerichte versuchen, einen vorher gemachten Fehler über eine extrem extensive Auslegung eines Straftatbestandes zu korrigieren. Denn der richtige Weg wäre wohl gewesen, dem jetzt Angeklagten im Rahmen der Führungsaufsicht die Betreuung von Kindern zu untersagen. Dies ist versäumt worden, weswegen jetzt versucht wird, den einzig in Reichweite liegenden Straftatbestand soweit zu verbiegen, dass eine Reaktion erfolgen kann. Man kann hoffen, dass der Bundesgerichtshof dies ebenso erkennt und die Grenze klar zieht.
Schwerer Missbrauch durch einen Kuss? Erscheint doch angesichts der Rechtsprechung eher dürftig.
https://www.lawblog.de/index.php/archives/2011/08/11/ein-zungenkuss-ist-kein-beischlaf/