Richterin, Freispruch, Sexualstraftat, in dubio pro reo, dolus evenzuales, Rechtsanwalt, Strafrecht, Berlin
Rechtsanwalt Oliver Marson

Richterin verkündet „leider“ einen Freispruch

Am AG Tiergarten hatte sich im August 2016 ein Mandant wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 11 Fällen gem. §§ 176 und 176a StGB zu verantworten. Die angeblichen Straftaten liegen 8 Jahre zurück und sollen sich 2008 ereignet haben. Die Handlungen als solche räumte der Mandant nun in der Hauptverhandlung ein. Allerdings hatte er sich darauf berufen, dass die beiden Jungen nicht wie in der Anklage behauptet 13, sondern 15 Jahre, mindestens jedenfalls 14 Jahre alt waren. So hätte der eine ihm berichtet, er besuche die 9. Klasse.

Richterin vernahm die betroffenen Zeugen

Bei der gerichtlichen Zeugenvernehmung konnte sich einer der beiden Zeugen überhaupt nicht mehr erinnern, wann es zu den Handlungen gekommen sei und ob er mit dem angeklagten Mandanten über sein Alter gesprochen habe. Der andere Zeuge räumte die sexuellen Handlungen auch freimütig ein und bestätigte die Einlassung des Mandanten, ihm damals erzählt zu haben, die 9. Klasse zu besuchen. Beide Zeugen sprachen von einvernehmlichem Sex. Auf einem bei den Akten befindlichen Foto eines der Zeugen aus dem „Tatzeitraum“ präsentierte sich dieser nackt und auch ansonsten in „voller Pracht“. Die Richterin meinte in Übereinstimmung mit der Verteidigung, dass man vom Aussehen her eher von einem Jugendlichen statt von einem Kind ausgehen müsse.

Richterin unterbrach die Hauptverhandlung

Das Schöffengericht zog sich zu einer nicht enden wollenden Beratung zurück. Nach einer 3/4 Stunde fragte mich mein Mandant, was denn das Gericht mache. Ich meinte, die hoffen wohl, etwas in den Akten zu finden, um den schon im Geburtskanal befindlichen Freispruch noch verhindern zu können. Dann gab es ein Rechtsgespräch, bei dem die Staatsanwältin und der Verteidiger nach ihrer Rechtsmeinung befragt wurden. Frau Staatsanwältin warf den dolus eventualis in die Debatte, konnte den aber nicht so recht begründen. Ich warf nur in die Debatte, dass ich einen Freispruch beantragen werde, weil es an der subjektiven Seite ermangele (Vorsatz).

Nochmals unterbrach die Richterin die Verhandlung. Wieder dauerte es ewig, die Justizwachtmeister erschienen vor dem Saal, weil sie längst Feierabend hatten und eigentlich weg wollten.

Richterin verkündet „leider“ Freispruch

Nach den Plädoyers verkündete die Richterin den Freispruch. In der mündlichen Urteilsbegründung bestätigte sich meine Vermutung, dass sie mit Verurteilungswillen an die Beweisaufnahme gegangen war und die Verhandlungsunterbrechungen vermutlich nutzte, um die Geburt des Freispruchs noch zu verhindern. Denn mehrfach betonte sie bei der Urteilsbegründung, dass der Angeklagte „leider“ nicht zu widerlegen wäre, dass die Zeugen „leider“ den Anklagevorwurf nicht stützen konnten und dass „leider“ nach dem Grundsatz in dubio pro reo auf Freispruch zu erkennen war.

Leider den Zweifelsgrundsatz anwenden?

Ich dachte immer, Richter wenden den Zweifelsgrundsatz nicht „leider“ an, sondern selbstverständlich in der Grundüberzeugung der Notwendigkeit, rechtsstaatlichen Grundsätzen praktische Geltung zu verschaffen. Aus meiner Praxiserfahrung meine ich sagen zu können, dass es leider noch mehr solche Richter gibt wie die Richterin in diesem Verfahren. Und in diesem Zusammenhang steht das „leider“ ohne Anführungszeichen.

Auch andere Verfahren wie hier zeigen, wie Richter nach meiner Wahrnehmung mit Verurteilungswillen agieren. Mehr zu Straftaten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern finden Sie auch hier.