Kindstötung Beweisververtungsverbot Beschuldigtenvernehmung Übermüdung § 136a StPO
Rechtsanwalt Oliver Marson

Hauptverhandlung wegen Kindstötung hat begonnen

Am 02. September 2013 hat vor dem Landgericht Berlin die Hauptverhandlung in einem Fall der vermeintlichen Kindstötung  und somit wegen Totschlags begonnen. Die Angeklagte befindet sich nach einem Haftverschonungsbeschluss des Landgerichts auf freiem Fuß.

Die Anklage der Staatsanwaltschaft Berlin mit Vorwurf der Kindstötung

Nach der Anklage der Staatsanwaltschaft soll die damals 23-jährige Studentin im Dezember 2012 ihr Kind unmittelbar nach der Geburt durch Ersticken in der elterlichen Wohnung getötet haben (Neonatizid). Der Anklagevorwurf  der Kindstötung beruht ausschließlich auf einer Beschuldigtenvernehmung, in der die Angeklagte die Tat eingeräumt habe.

Einlasung der Angeklagten zum Vorwurf der Kindstötung

Die Angeklagte hat zu Prozessbeginn eine persönliche Einlassung über ihren Strafverteidiger verlesen lassen. Darin hat sie im Kern dargelegt, dass  sie das Kind an diesem Tag unerwartet und ohne fremde Hilfe zur Welt gebracht habe. Sie schildert auch die schwierigen Umstände der Geburt. Die ihr vorgeworfene Tat hat sie zurückgewiesen.

Umstände der rechtswidrigen Beschuldigtenvernehmung

Die Vernehmung, mit der sich die Angeklagte selbst belastete, fand auf einer Wöchnerinnenstation  eines Krankenhaus statt. Sie begann in den späten Abendstunden wenige Stunden nach der dramatischen Geburt. Zu diesem Zeitpunkt war die Angeklagte fast 38 Stunden ohne Schlaf. Sie war außerdem durch hohen Blutverlust (Anämie) und die kräftezehrende Geburt physisch und psychisch in einem desolaten Zustand. Hinzu kam, dass ihr von den Ärzten unmittelbar vor Beginn der Vernehmung ein Medikament zur Beruhigung und Beförderung des Schlafes verabreicht worden war.

Rechtsstaatswidrige Vernehmung wegen Übermüdung

Ermittlungsbehörden ist es nach § 136a StPO untersagt, Vernehmungen im Zustand der Übermüdung durchzuführen. Die Vorschrift schützt jeden Beschuldigten vor massiver Bedrängung durch Ermittlungsbehörden. Insbesondere soll damit gewährleistet werden, dass die Entschliessungsfreiheit eines Beschuldigten durch Übermüdung nicht beeinträchtigt ist. Denn jeder Beschuldigte hat das Recht, frei zu entscheiden, ob er sich zu einem erhobenen Straftatvorwurf äußern will oder nicht. Diese Fähigkeit  zu einer selbstbestimmten, freien Entscheidung war bei der Angeklagten zum Zeitpunkt der Vernehmung ausgeschlossen, zumindest  aber erheblich beeinträchtigt.

Verteidigung erhebt Widerspruch gegen die Beweisverwertung

Die Anwendung einer rechtsstaatswidrigen Vernehmungsmethode der beschriebenen Art liegt nach der Rechtsprechung bei Schlafentzug ab 30 Stunden vor. Dieser Zeitraum war bei der Angeklagten zu Beginn der Vernehmung mit fast 38 Stunden bereits weit überschritten. Folglich hat die Verteidigung am heutigen ersten Verhandlungstag Widerspruch gegen die Verwertung der Beschuldigtenvernehmung und gegen Vernehmung der Vernehmungsbeamten als Zeugen erhoben. Der Widerspruch ist hier nachzulesen.

Folge eines Beweisverwertungsverbots

Folgt das Gericht dem erhobenen Widerspruch, darf der Inhalt der Vernehmung mit dem vermeintlichen Geständnis der Angeklagten nicht als Beweismittel und somit nicht gegen sie verwendet werden.  Die Gerichtsentscheidung bleibt abzuwarten. Wird die Aussage doch verwendet,  ist der Ausgang des Verfahrens aus anderen Gründen offen. Denn die Ursachen für den Tod des Säuglings stehen aus Sicht der Verteidigung und nach Aktenlage nicht fest.

Ausnutzung des Erschöpfungszustandes zur Erzwingung einer Aussage

Den Ermittlungsbehörden kann der Zustand der Angeklagten zu Beginn der Beschuldigtenvernehmungen nicht verborgen geblieben sein. Deshalb liegt die Vermutung der Verteidigung auch nahe, dass die Vernehmungen unter Ausnutzung des psychisch und physisch desolaten Zustandes der Angeklagten mit dem Ziel der Erzwingung einer belastenden Aussage erfolgt ist.

Massive Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte

In dieser Auffassung wird die Verteidigung auch dadurch bestärkt, dass es zum Zeitpunkt der Vernehmungen keinen Tatverdacht gegen die Angeklagte gab. In diesem Zusammenhang kam es durch die Ermittlungsbehörde zu massiven Beeinträchtigungen der Verteidigungsrechte der Angeklagten (§ 136 StPO). Der zweite Teil des Widerspruchs gegen die Beweisverwertung stützt sich folgerichtig auf die Verletzung der Verteidigungsrechte und ist hier näher ausgeführt.

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